Auf Treu und Glauben

Autor: Donna Leon
Verlag: Diognees
Umfang: 320 Seiten

Kurzinformation zum Buch

Übersetzt aus dem Englischen von Werner Schmitz

Venedig kann sehr heiß sein: Im Sommer fliehen die Venezianer aus der stickigen Lagunenstadt. Doch aus Ferien in den kühlen Bergen wird für Commissario Brunetti nichts. Dafür sorgen eine Leiche und dubiose Machenschaften am Tribunale.

Ferragosto in Venedig: Commissario Brunetti will mit seiner Familie nach Südtirol in die Berge fahren. Er ist ferienreif, will unter dem Federbett verschwinden und Geschichtsbücher lesen. Für einen Moment scheint auch das Verbrechen eine Auszeit zu nehmen, nur zwei Leute bitten ihn um einen Freundschaftsdienst: Brusca macht sich Gedanken um unerledigte Gerichtsakten, Vianello um die eigene Tante. Aus heiterem Himmel ist Zia Anita dabei, das Familienvermögen durchzubringen. Vianello fürchtet, sie stehe unter dem Einfluss eines gefährlichen Betrügers. Durch welche Kanäle fließt das Geld? Brunetti will das nach den Ferien aufklären und sitzt schon im Zug – da gibt es einen Toten. Ein Mordfall, der den Commissario in brütender Hitze kreuz und quer durch Venedig führt. Brunetti kämpft gegen Hinterhältigkeit und Scheinheiligkeit, gegen Durchtriebenheit und Korruption. Donna Leons 19. Fall führt in ein Venedig der Scharlatane.

Leseprobe aus »Auf Treu und Glauben«

Brunetti hielt es nur noch mit letzter Willenskra? am Schreibtisch aus, als Ispettore Vianello bei ihm eintrat. Der Commissario hatte sich einen Bericht über WaSen schmug - gel im Veneto zu Gemüte geführt, in dem Venedig nicht ein einziges Mal vorkam, sich dann ein Schreiben vorgenommen, dem zufolge zwei neue Rekruten an die Squadra Mobile überstellt werden sollten, bevor ihm klar wurde, dass sein Name gar nicht auf dem Verteiler stand; und schließlich hatte er noch einen ministeriellen Bescheid zur Neuregelung von Frühpensionierungen überflogen. Mehr war angesichts der Dicke des Dokuments nicht drin gewesen. Das Opus lag vor ihm, während Brunetti aus dem Fenster starrte und hoSte, es würde jemand hereinkommen und ihm einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf schütten, oder es würde regnen, oder er fände Einlass in den Himmel und entginge so der stickigen Hitze in seinem Büro und überhaupt dem Elend des Augusts in Venedig. 
Und so erschien ihm Vianello, der mit der aktuellen Gazzetta dello Sport unterm Arm bei ihm auftauchte, als die Erlösung. 
»Was ist das denn?«, fragte Brunetti pikiert und zeigte auf die rosafarbene Zeitung. Natürlich kannte er das Blatt, nur war ihm schleierha?, wie Vianello damit herumlaufen konnte.
Der Inspektor warf einen zerstreuten Blick auf die Zeitung. 
»Die hat jemand auf der Treppe verloren. Ich wollte sie nachher unten im Bereitscha?sraum abgeben.« 
»Ich dachte schon, die gehört dir«, sagte Brunetti grinsend. 
»So schlecht ist die auch wieder nicht.« Vianello nahm Platz und warf die Zeitung auf Brunettis Schreibtisch. 
»Als ich das letzte Mal hineingesehen habe, war ein langer Artikel über die Polomannscha?en bei Verona drin.« 
»Polo?« 
»OSenbar haben wir sieben Polomannscha?en in diesem Land, oder auch allein schon in der Gegend von Verona.« 
»Mit Ponys und weißer Kleidung und Polohelmen?«, fragte Brunetti belustigt. Vianello nickte eifrig. 
»Da waren Fotos dabei. Marchese hier und Conte da, dicke Villen und Palazzi.« 
»Bist du sicher, dass dir die Hitze nicht zu Kopf gestiegen ist? Verwechselst du das nicht mit etwas, das du, was weiß ich, in Chi gelesen hast?« 
»Chi lese ich schon gar nicht«, verwahrte sich Vianello. 
»Kein Mensch liest Chi«, stimmte Brunetti zu, dem noch nie ein bekennender Chi-Leser begegnet war. 
»Der Klatsch wird durch Moskitos übertragen und sickert einem ins Gehirn, wenn man gestochen wird.« 
»Und mir soll die Hitze zu Kopf gestiegen sein«, meinte Vianello nur. Die beiden schwiegen, in SchlaSheit vereint, keiner brachte auch nur die Energie auf, wenigstens über die Hitze zu stöhnen. Vianello beugte sich vor, bog einen Arm nach hinten und zupfte an seinem Baumwollhemd, das ihm am Rücken klebte. 
»Auf dem Festland ist es noch schlimmer«, sagte er schließlich. 
»In Mestre hatten sie gestern 41 Grad in den Büros nach vorne raus.« 
»Ich dachte, die haben eine Klimaanlage?« 
»Rom hat sie angewiesen, die nicht einzuschalten, damit es nicht wieder zu einer Überlastung des Netzes kommt wie vor drei Jahren.« Vianello hob die Achseln. 
»Hier sind wir jedenfalls besser dran als die Kollegen in ihrem Kasten aus Glas und Beton.« Er sah nach den oSenen Fenstern, durch die das Licht des Vormittags strömte. Die Vorhänge bewegten sich lustlos, aber immerhin. 
»Und die stellen die Klimaanlage wirklich nicht an?«, fragte Brunetti. 
»Haben sie jedenfalls behauptet.« 
»Würde ich nicht glauben.« 
»Ich auch nicht.« Wieder schwiegen sie, bis Vianello sagte: 
»Ich wollte dich was fragen.« Brunetti sah ihn an und nickte: Das war einfacher, als etwas zu sagen. Vianello strich mit einer Hand über die Zeitung und lehnte sich zurück. 
»Hast du eigentlich schon mal«, /ng er an und unterbrach sich, als suche er nach dem richtigen Wort, 
»dein Horoskop gelesen?« Brunetti überlegte kurz. 
»Nicht bewusst.« Auf Vianellos fragenden Blick hin fügte er hinzu: 
»Das heißt, ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals eigens die Zeitung danach durchgeblättert hätte. Aber wenn sie jemand auf dieser Seite oSen liegen lässt, werfe ich schon mal einen Blick darauf. « Vergeblich wartete er auf eine Erklärung. 
»Warum?«, hakte er schließlich nach. Vianello rutschte auf seinem Stuhl herum, stand auf, strich seine Hose glatt und setzte sich wieder. 
»Es geht um meine Tante, die Schwester meiner Mutter. Die letzte, die noch lebt. Anita. Sie liest neuerdings täglich ihr Horoskop. Ob die Voraussage eintriSt oder nicht, ist ihr gleichgültig, da steht ja eh nie was Genaues, oder? ›Sie werden eine Reise unternehmen.‹ Wenn sie am nächsten Tag zum Rialto-Markt geht, um Gemüse einzukaufen: Da hat sie ihre Reise.« Vianello erwähnte seine Tante nicht zum ersten Mal: Sie war die Lieblingsschwester seiner verstorbenen Mutter und seine Lieblingstante, oSenbar, weil sie von allen in der Familie den stärksten Willen besaß. In den fünfziger Jahren hatte sie einen Elektrikerlehrling geheiratet, der wenige Wochen nach der Hochzeit auf der Suche nach Arbeit in Richtung Turin verschwunden war. Sie wartete fast zwei Jahre lang, bis sie ihn wiedersah. Zio Franco hatte Glück gehabt und schließlich bei Fiat Arbeit gefunden, wo man ihm ermöglicht hatte, die Meisterprüfung abzulegen. Zia Anita zog nach Turin, und sie lebten dort sechs Jahre. Nach der Geburt ihres ersten Sohns zogen sie nach Mestre, wo Zio Franco seinen eigenen Betrieb aufmachte. Die Familie wuchs, der Betrieb wuchs: Beides gedieh prächtig. Erst Ende der Siebziger hängte Zio Franco sein Geschä? an den Nagel und zog zur Überraschung seiner Kinder, die alle auf der terraferma aufgewachsen waren, nach Venedig zurück. Gefragt, warum keins ihrer Kinder mit ihnen nach Venedig wollte, hatte Zia Anita geantwortet: 
»Die haben Benzin im Blut, kein Salzwasser.« Brunetti wollte sich gern anhören, was Vianello ihm von seiner Tante zu erzählen hatte. Es würde ihn davon abhalten, alle paar Minuten ans Fenster zu treten, um nachzusehen, ob… Ob was? Ob es angefangen hatte zu schneien? 
»Seit neuestem sieht sie sich die im Fernsehen an«, sagte Vianello. 
»Horoskope?«, fragte Brunetti verblüSt. Er sah nur unregelmäßig fern, gezwungenermaßen, wenn jemand anders in der Familie den Kasten anmachte, und hatte keine Ah - nung, was es dort alles zu sehen gab. 
»Ja. Oder vielmehr diese Kartenleser und Wahrsager, die behaupten, sie können deine Probleme lösen.«

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