Schärfentiefe
Autor: Ilona Mayer-Zach
Verlag: echomedia Buchverlag
Umfang: 256 Seiten
Kurzinformation zum Buch
Tiefgründig, mitunter bitter, aber auch mit einer gehörigen Portion Humor dreht sich dieser Kriminalroman um die Diskrepanz zwischen Sein und Schein: Ein Starfotograf wird aus der Donau gefischt. Tod durch Ertrinken steht in den Polizeiakten, kein Hinweis auf Fremdverschulden. Damit wäre die Sache eigentlich erledigt. Wenn da nicht Paula Ender wäre, Anfang 30, mit dem Hang, ihre Nase ständig in Dinge zu stecken, die sie nichts angehen. Sie erhält den Auftrag, die Biografie des Verunglückten zu schreiben, beginnt zu recherchieren und taucht bald, tiefer als ihr lieb ist, in das Leben des charismatischen Künstlers ein. Ihre Nachforschungen bringen dunkle Facetten seines Charakters ans Tageslicht, die so gar nicht zu dem positiven öffentlichen Bild passen wollen. Zudem trifft Paula auf immer mehr Personen, die gute Gründe hatten, ihn zu beseitigen ...
Leseprobe aus »Schärfentiefe«
Eins
1.
„Hast du das schon gelesen?" Ada Klamm kam mit der Montagszeitung ins Büro von Karl Santo, ihrem Chef in der
PR-Agentur, und legte diese aufgeschlagen auf seinen Schreibtisch.
In der Nacht auf Sonntag wurde beim Flusskraftwerk Freudenau die Leiche eines Mannes geborgen. Bei dem Verunglückten handelt es sich, laut Auskunft der Polizei, um Stefan Urban (69), den international anerkannten Fotografen und Professor am Institut für künstlerische Fotografie in Wien. Es wurden keine Anzeichen von Fremdeinwirkung festgestellt.
„Interessant. Das ist doch der Fotograf ...", hob Santo an.
„... für den wir im Rahmen des internationalen EDV-Kongresses eine Fotoausstellung im MuseumsQuartier ausrichten sollen", fuhr Ada beflissen fort. „Ich sage nur 400 geladene Gäste, ein Riesenbudget ...", wobei sie das „i" von Riesenbudget extrem in die Länge zog. „Was meinst du, werden sie uns jetzt den Auftrag stornieren?"
Santo zupfte ein Haar von seinem maßgeschneiderten Dreiteiler. Heute trug er einen dunkelgrauen mit rosa Hemd und rosa Krawatte. Alles vom Feinsten. Er hatte von seinen italienischen Vorfahren nicht nur das Aussehen geerbt, sondern wohl auch den ausgesprochen guten Geschmack bei der Wahl seiner Kleidung.
Er rollte das Haar zwischen seinen Fingern und betrachtete es nachdenklich.
Ada sah ihm dabei mit hochgezogenen Augenbrauen über die Ränder ihrer viereckigen Brille hinweg zu.
„So wie ich das sehe, werden wir dem ehrwürdigen Herrn posthum eine Ehrung zuteil werden lassen. Mehr noch, wir werden die zuständigen Sponsoren, allen voran unseren Hauptsponsor Comm4Syst, überzeugen, dass wir unbedingt noch eine Biografie schreiben müssen, sozusagen einen Nachruf auf den international anerkannten Fotografen mit Wiener Wurzeln. Wenn der werte Gefeierte schon nicht persönlich an der Präsentation seiner Ausstellung teilnehmen kann, weil er aufgrund eines tödlichen Unfalls verhindert ist, sollte er zumindest in Buchform anwesend sein. Ich werde das gleich mit den zuständigen Herren besprechen."
Er ließ das Haar fallen.
„Sonst noch etwas?"
Ada blieb kurz der Mund offen stehen. Dann rückte sie ihre Brille zurecht, räusperte sich, raffte die Zeitung zusammen und ging in Richtung Tür.
„Dann werde ich mal sehen, wen von unseren Leuten ich auf die Biografie ansetzen werde. Im Moment sind alle voll im Einsatz."
Daran zu zweifeln, dass Santo seine Vorstellung nicht durchsetzen könnte, hatte sie sich in dem einen Jahr, das sie mittlerweile in der Agentur arbeitete, abgewöhnt.
„Ruf mal bei Paula an. Der fällt sicher schon die Decke auf den Kopf!", schlug er vor.
Ada blieb stehen und sah ihn zweifelnd an: „Paula Ender? Aber die macht doch diese Schreibseminare."
Karl Santo, der mittlerweile die Hände vor der Brust gefaltet hatte, sah sie mit seinen dunklen Augen bohrend an.
„Natürlich meine ich diese Paula. Die wird sich sicher freuen, wenn sie endlich wieder was Ordentliches zu tun bekommt."
„Okay, ich ruf sie gleich an", sagte Ada und verließ rasch das Zimmer. Widerstand war zwecklos, wenn Santo sich etwas einbildete. Die beste Strategie war Augen zu und durch.
Santo schien es noch immer nicht verdaut zu haben, dass Paula sein lukratives Jobangebot, die Öffentlichkeitsarbeit für eine internationale Modekette zu machen, ausgeschlagen und sich stattdessen selbständig gemacht hatte. ...
Vier
1.
Paula erwachte am nächsten Morgen wie gerädert. Sie hatte unruhig geschlafen, ein Traum hatte sie gequält, doch sie -konnte sich nicht an ihn erinnern. Draußen hörte sie Kurt rumoren. Das Beste war das Knattern der verkalkten Kaffeemaschine, die dem Geräusch nach ausreichend von jener aufputschenden Flüssigkeit produzierte, die Paula im Moment dringend nötig hatte.
Sie schlurfte in die Küche und holte sich eine große Tasse Kaffee. Kurt war im Bad und das war gut so. Sie hatte -heute keine Lust auf ein Morgenpalaver mit ihm. Beim Blick aus dem Küchenfenster präsentierte sich die Stadt grau in grau. Die Straßen waren mittlerweile frei geschaufelt und nur noch von braunem Matsch bedeckt. Die romantische Neuschneenacht war dahin.
Paula ging zurück in ihr Zimmer und suchte im Internet die Daten von AT Grafix heraus. Sie wählte die Nummer, aber wie erwartet, meldete sich noch niemand. Kurz nach acht rief Ada an. Sie klang müde, wartete aber mit guten Neuigkeiten auf. Sie hatte die Nachlassverwalterin angerufen und von ihr die Genehmigung erhalten, in die Wohnung von Urban zu gehen.
„Mittwoch ist in Ordnung", sagte Paula und musste nicht einmal einen Blick auf ihren Terminkalender werfen.
„Gut. Dann hängen wir gleich ein gemütliches Abendessen an, auf Kosten von Santo - Projektbesprechung sozusagen. Hast du etwas Neues herausgefunden?"
Paula erzählte ihr in groben Zügen vom Besuch im Institut für künstlerische Fotografie.
„Klingt irgendwie eigenartig ...", stimmte Ada zu, um dann aber sofort wieder zu relativieren: „... aber vielleicht hat es diese Gerlinde Wagner einfach nur angeödet, weiter mit Urban zu arbeiten. Verrenn dich nicht in irgendwelche Recherchen, die uns nichts bringen. Du kennst ja Santo. Der will nur eine hübsche Biografie, die er gut verkaufen kann."
Kaum hatte Paula aufgelegt, läutete das Telefon schon wieder.
„Guten Tag. Sie haben bei uns angerufen?", säuselte eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.
„Wer ist uns?", fragte Paula etwas irritiert.
„Hier ist AT Grafix. Ihre Nummer war auf unserem Display. Was kann ich für Sie tun?"
Vergiss Gerlinde Wagner, rügte sich Paula. Aber die Neugier war stärker, und wenn sie schon so freundlich gefragt wurde ...
„Ich habe gestern einen Jubiläumsband gesehen, den Sie im Vorjahr für das Institut für künstlerische Fotografie erstellt haben. Können Sie mir noch einen zukommen lassen?"
„Tut mir leid, da muss ich mich erst beim zuständigen Team erkundigen. Soweit ich weiß, haben wir keine Bücher mehr, aber vielleicht haben wir es noch irgendwo gespeichert. Dann schicke ich Ihnen das PDF. Ist das ausreichend?"
„Eigentlich interessiert mich nur der Beitrag über Stefan -Urban. Vor allem die Fotos. Haben Sie die noch?"
„Wie lautet Ihre E-Mail-Adresse?"
Paula gab sie der Frau durch und wunderte sich wieder -einmal, wie einfach es doch war, an Informationen heranzukommen.
„Ich will Ihnen nichts versprechen, aber vielleicht finden wir etwas. Dann gebe ich Ihnen Bescheid."
Paula bedankte sich sehr herzlich. Das Projekt lag über ein Jahr zurück. Wahrscheinlich war es längst in den Tiefen -eines elektronischen Ordners verschwunden. Unwahrscheinlich, dass sich jemand die Mühe machen und Zeit opfern würde, um dieses Projekt für sie auszugraben.
Was vielleicht auch besser war. Denn eigentlich wollte sie nicht wieder in eine Geschichte hineingezogen werden, die ihr Unannehmlichkeiten brachte. Was sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, dass sie sich bereits mittendrin befand. ...
... Paula sah sich um, aber es war ohnehin keine Menschenseele zu sehen. Ada betrat das Haus und zog Paula mit sich. Sie standen in einem engen Vorraum. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, und sie konnten einige Möbel und Regale erkennen.
„Bitte, woher hast du die Schlüssel?"
Paula konnte Adas Gesicht nicht sehen, doch sie wusste, dass sie grinste, als sie in ihre Richtung ätzte: „Nun, ich habe meine Zeit einfach besser genutzt als du. Während du hier überpünktlich herumgestanden bist und dir die Zehen abgefroren hast, habe ich noch schnell den Schlüsselbund organisiert."
„Bei wem?"
„Bei einem Bekannten von mir. Aber frag nicht weiter. Du willst keine Details wissen, glaub mir. Komm, lass uns Schnüffler spielen."
Ada hatte auch an eine Taschenlampe gedacht, mit der sie den Raum, in dem sie sich befanden, ausleuchtete.
„Na, dann lass uns mal hier beginnen", und schon ging Ada zur nächstgelegenen Tür, die links von ihnen lag. Ein enger Raum mit einem Klo wurde sichtbar. Unzählige Spinnennetze hingen von den Wänden.
„Nicht sehr einladend. Da würde ich mich trotz der Kälte lieber im Freien aufhalten."
Sie ging weiter. Als Paula ihr folgen wollte, spürte sie einen stechenden Schmerz an der rechten Wade.
„Autsch, was war das? Leuchte mal her!"
Ein spitzes Holzstück hatte sich in ihr Bein gebohrt. Eine breite Laufmasche lief von der Wade nach oben und unten, und ein blutiger Kratzer war zu sehen.
„Wirklich die passende Kleidung für unser Vorhaben!", stellte Ada süffisant fest. Sie war wie immer bequem und heute besonders passend mit ausgewaschenen Jeans und Wollpulli bekleidet.
„Die Stöckelschuhe könnten noch etwas höher sein, damit du in der Dunkelheit besser stolperst", kicherte sie.
„Sehr witzig. Ich hatte ein Seminar und bin nicht mehr dazu gekommen, mich umzuziehen", rechtfertigte sich Paula gereizt. Irgendwie war das heute nicht ihr Tag. Zuerst die quälenden Juristen, dann der plötzliche Kälteeinbruch und jetzt Ada,
die ihr mit solchen Sprüchen gehörig auf den Nerv ging.
Sie betraten das nächste Zimmer. Es war groß, durch Regale in mehrere Einheiten gegliedert. In einer Ecke befand sich eine wuchtige schwarze Ledergarnitur, vor der ein geschmackloser Couchtisch aus Glas mit einem Delfinbein stand. Der Kontrast dieser Einrichtung zu Urbans exklusiver Wohnung konnte nicht größer sein.
Hier war der einzige Bereich des Raums, der ein wenig Platz bot. Der Rest war angefüllt mit zahlreichen Kisten, Plastik-säcken, Mappen und Schachteln, die über- und nebeneinander gestapelt waren. Gegenüber dem Sofa standen mehrere Stative, und in einem Gestell lagen Kameras und Zubehör.
Nebenan befand sich die Kreativzelle Urbans, die Dunkelkammer. Flaschen mit chemischen Lösungsmitteln und Behälter mit Pulvern standen überall herum, auf Schnüren, die kreuz und quer gespannt waren, hingen einige Fotos. Wahrscheinlich die letzten, die Urban entwickelt hatte.
Es wäre wohl niemand, der Urbans Appartement kannte, auf den Gedanken gekommen, dass sich da und dort ein und derselbe Mensch aufgehalten hatte. Paula spürte etwas Klebriges auf ihrer Hand.
„Ada, bitte, lass uns hier verschwinden. Ich habe ein -ungutes Gefühl, und diese ekelhaften Spinnennetze überall ...", quengelte sie. ...