Grand Cru

Autor: Martin Walker
Verlag: Diogenes Verlag
Umfang: 384 Seiten

Kurzinformation zum Buch

Ein geheimes Paradies auf Erden, das ist das Périgord. Oder vielmehr war, denn die Weinberge der Gegend sollen von einem amerikanischen Weinunternehmer aufgekauft werden. Es gärt im Tal, in den alten Freund- und Seilschaften, und in einem Weinfass findet man etwas völlig anderes als Wein – eine Leiche.

Leseprobe aus »Grand Cru«

Das Heulen der Sirene auf dem Dach der fernen mairie durchbrach die Stille der französischen Sommernacht. Noch war es dunkel, die Morgendämmerung würde erst in gut einer Stunde einsetzen, doch Bruno Courrèges lag schon wach. Er grübelte über verpasste Chancen: Was hätte alles werden können mit der Frau, die noch vor kurzem dieses Bett mit ihm geteilt hatte? Aber dieser Gedanke verflog sofort, als er den schauerlich anschwellenden Alarmton hörte, der meist Gefahr bedeutete und gleichzeitig Erinnerungen wachrief. Dieselbe Sirene hatte die Bewohner des Städtchens Saint-Denis vor Krieg und Invasion gewarnt, Befreiung und Frieden verkündet und ertönte nunmehr täglich zur Mittagsstunde. Sie rief aber auch die Männer der Freiwilligen Feuerwehr zum Einsatz, und in solchen Notfällen war er als einziger Polizist von Saint-Denis natürlich persönlich gefordert. Fast erleichtert darüber, aus seinen düsteren Gedanken gerissen zu werden, schlug Bruno das zerknüllte Laken zur Seite.
Als er sich anzog und zwischendurch immer wieder einen Schluck Milch aus dem Tetrapak trank, klingelte sein Handy. Es war Albert, einer der beiden Berufsfeuerwehrmänner, die den Trupp der freiwilligen pompiers anführten. Er war mit seinem Löschzug bereits unterwegs.
»Auf der alten Straße nach Saint-Chamassy brennt’s«, sagte er in gehetztem Tonfall. »Eine Scheune samt Feld. Oben auf dem Hügel, kurz vor der Abzweigung nach Saint-Cyprien. Wenn der Wind auffrischt, könnte sich das Feuer rasend schnell ausbreiten.«
»Ich bin schon unterwegs.« Bruno kniff die Augen zusammen, stellte sich die Straßenkarte von Saint-Denis und Umgebung vor und überlegte, wie er am schnellsten zum Brandort kommen würde. Dies war sein Bezirk, und den kannte er so gut wie eine Frau ihr Gesicht im Spiegel: die Straßen, die er patrouillierte, die abgelegenen Häuser und Weiler, wohin er öfter gerufen wurde, die Wälder, in denen er jagte und manchmal auch Pilze suchte, die Bauernhöfe mit all ihren Gänsen und Enten, Schweinen und Ziegen, die aus dieser Gegend das gastronomische Herzland Frankreichs machten.
»Verletzte scheint es nicht zu geben«, quäkte Alberts Stimme durch Brunos Handy, das er sich zwischen Schulter und Ohr klemmte, als er sich das Hemd zuknöpfte. »Verständige aber lieber doch gleich das Krankenhaus, sobald du mit dem Bürgermeister gesprochen hast. Ich werde jetzt in Les Eyzies und Saint-Cyprien Unterstützung anfordern. Würdest du bitte in der Wache vorbeischauen und sicherstellen, dass unsere Ersatztankzüge bald nachkommen? Setz dich selbst ans Steuer, wenn Fahrer fehlen. Wir brauchen jede Menge Wasser. Und bitte beeil dich. Wir sehen uns dann gleich.«
»Da oben sind vier oder fünf Höfe. Müssen wir die womöglich evakuieren?«
»Das weiß ich noch nicht. Sag dem Bürgermeister Bescheid! Er soll seine Leute in Alarmbereitschaft versetzen. Und vielleicht sollte Radio Périgord eine Warnung bringen.«
Bruno betete im Stillen, sein alter Kleintransporter möge anspringen. Er fütterte schnell seinen Hund – die Hühner konnten für sich selbst sorgen – und rannte zum Wagen. Wie aus Rücksicht auf den Notfall startete der Motor auf Anhieb. Während Bruno mit einer Hand am Lenker auf die Stadt zusteuerte, rief er zuerst den Bürgermeister und dann den Arzt an, die ebenfalls beide von der Sirene geweckt worden waren. Auch das Städtchen erwachte allmählich, überall gingen Lichter an, während er mit hohem Tempo zur Gendarmerie fuhr, wo er den alten Jules am Nachtschalter darum bat, die Radiostation in Périgueux zu informieren und ein paar Kollegen loszuschicken, um die Straße vor der brennenden Scheune abzusperren. Als Bruno zu seinem Transporter zurückeilte, kam capitaine Duroc aus dem kleinen Kasernengebäude herbeigestürmt und zog sich im Laufschritt die Uniformjacke über. Bruno überließ es Jules, ihm zu erklären, was los war. Auf der Feuerwache mühten sich Ahmed und Fabien damit ab, die Tankanhänger fertigzumachen. Inzwischen waren mehrere Freiwillige eingetroffen. Als Fahrer wurde Bruno nicht gebraucht. Er sprang zurück in seinen Transporter, ließ das Blaulicht rotieren und gab Vollgas. Die Sirene heulte immer noch.
Als er die offene Straße neben der Bahnstrecke nach Sarlat erreichte, sah er den rötlichen Schimmer am Nachthimmel über den Hügeln, ein Bild, das Beklemmung in ihm auslöste. Er hatte vor Feuer großen Respekt, der schon an Angst grenzte, und das nicht von ungefähr: Während der Balkankriege hatte er verwundete französische Soldaten aus einem brennenden Panzerwagen bergen müssen. Die Narben am linken Arm zeugten davon. In der Schublade seines Nachttischs lag das croix de guerre, das ihm die Regierung verliehen hatte, nachdem es anfangs behördlicherseits Einwände gab, weil die Friedensmission in Bosnien offiziell kein Kriegseinsatz gewesen war.
Bruno überlegte, ob er hinten im Wagen irgendetwas dabeihatte, womit er sich würde schützen können. In der Jacke, die er immer auf der Jagd trug, steckten Handschuhe und eine Mütze; feste Stiefel hatte er auch, und in seiner Sporttasche waren eine Schwimmbrille, eine Flasche Wasser und ein zusammengeknülltes altes Tennishemd, das er sich bei Bedarf vors Gesicht halten konnte. Der Transporter keuchte bergauf; Bruno trat das Gaspedal ganz durch. Er kannte sich in der Gegend aus, doch an eine Scheune konnte er sich nicht erinnern. Das Hochplateau bestand hauptsächlich aus Wäldern und mageren Weiden mit ein paar alten, verfallenen Schäferhütten. Außerdem stand da die hohe Richtfunkantenne.
Als Bruno hinter der letzten Kehre das Plateau erreichte, schien sich der flackernde Widerschein des Feuers über den ganzen Himmel ausgebreitet zu haben. Voller Sorge dachte er an die Trockenheit der letzten Wochen. Der Fluss führte so wenig Wasser, dass die Touristen mit ihren Kanus auf die Kanäle ausweichen mussten. Als er das Feuer riechen konnte, ging er unwillkürlich vom Gas herunter, und dann sah er das Blaulicht auf Alberts Löschzug, das dem Flackern am Himmel den Takt vorzugeben schien. Bruno parkte am Straßenrand. Er stieg in seine Stiefel, streifte die Handschuhe über und setzte sich die Jagdmütze auf. Er suchte nach der Schwimmbrille, steckte sie ein und ließ Wasser aus der Flasche über sein Tennishemd laufen. Dann rannte er auf die beiden pompiers zu, die, nur als schwarze Schemen vor den Flammen erkennbar, gemeinsam die Spritze gepackt hielten.
»War doch keine Scheune, nur ein großer Holzschuppen. Der ist nicht mehr zu retten«, brüllte Albert über den Motorenlärm und das Brausen der Flammen hinweg. Aus dem hinteren Teil des Fahrzeugs zog er eine schwere gelbe Schutzjacke und reichte sie Bruno. Mit den Stiefeln, die Bruno anhatte, schien er einverstanden zu sein, denn er nickte, als er sie sah.
»Es hätte schlimmer kommen können. Wir waren rechtzeitig zur Stelle und konnten verhindern, dass das Feuer auf den Wald übergreift. Aber der Schuppen ist hin und auch, was immer da auf dem Feld gewachsen ist.«
Mit nervös zuckenden Blaulichtern näherten sich von hinten das zweite Löschfahrzeug mit einem großen Tankwagen im Schlepp und der Bus der Gendarmen. Albert rief sofort die Brandmeister der Nachbargemeinden an, um ihnen zu sagen, dass ihre Hilfe nicht nötig sei.
Als er sein Handy wieder weggesteckt hatte, fragte Bruno: »Habt ihr hier jemanden angetroffen?« Albert schüttelte den Kopf und stapfte zu dem zweiten Löschfahrzeug, das von Ahmed gesteuert wurde. »Wer hat das Feuer denn gemeldet?«, rief ihm Bruno hinterher.
»Ein anonymer Anrufer aus einer Telefonzelle in Coux«, rief Albert zurück.
Bruno versuchte, sich zu orientieren. Er wusste, dass die Straße – eine Schotterpiste, die frisch angelegt zu sein schien – im weiteren Verlauf durch dichten Wald führte. Aber hier, wo er stand, beschrieb sie einen weiten Bogen um ein Feld, das inzwischen gänzlich niedergebrannt war, und eine Weide, durch die sich langsam, aber stetig kleine Flammen fraßen. Der warme Wind, den er auf den Wangen spürte, wehte in Richtung Waldrand, den die pompiers mit Wasser besprengten, um ein Ausbreiten des Feuers zu verhindern. Am höchsten waren die Flammen über dem schon halb eingestürzten Holzschuppen, der mitten auf dem verkohlten Feld stand.
Bruno blieb mit seiner Stiefelspitze an etwas hängen. Irritiert blickte er zu Boden und sah ein kleines Blechdreieck, wie es von Landwirten verwendet wird, um zu kennzeichnen, in welchen Feldabschnitt sie was ausgesät hatten. Er hob es auf und las im Licht der Scheinwerfer des Feuerwehrwagens: »Agricolae Sech G71«. Er konnte damit nichts anfangen, steckte das Blechdreieck aber trotzdem ein. Hinter ihm wurden Rufe laut. Er drehte sich um und sah, wie zwei pompiers in ihren gelben Schutzanzügen einen weiteren Schlauch ausrollten, der sich wenig später zuckend mit Wasser füllte und eine mächtige Fontäne ausspie, die die beiden auf den Waldrand richteten.
»Riechst du auch was?«, fragte Albert, der plötzlich neben ihm auftauchte. »Komm mal mit.«
Er führte Bruno über schwelendes Gras in den Windschatten des Schuppens, wo es sehr viel leiser war. Von dem, was sich im Innern befunden hatte, war nicht mehr viel zu erkennen. Löschwasser rann von den rauchenden Resten des Daches und tropfte zischend auf einen Metalltisch, auf dem irgendein verkohltes Gerät stand. Zwei eingestürzte Deckenbalken hingen spitzwinklig über einem Kasten, der wie ein alter Aktenschrank aussah. Es roch, wie Bruno feststellte, nach verbranntem Kunststoff und Gummi. Und nach noch etwas anderem.
»Benzin?«, fragte er.
»Scheint so. Wir werden ein paar Proben nach Bordeaux ins Labor schicken, aber ich wette, es war Brandstiftung. Da drüben am Feldrand riecht man es auch. Da hat jemand gründliche Arbeit geleistet. Hier bist du mehr gefragt als ich.«
»Für Brandstiftung ist die police nationale zuständig«, entgegnete Bruno. Und die Telefonzelle in Coux würde auf Fingerabdrücke hin untersucht werden müssen, dachte er.
»Wenn es um die Vernichtung der Ernte ging, um einen Streit unter Bauern oder irgendwelche Eifersuchtsgeschichten, wäre das allein unsere Sache. Die police nationale hätte gar keine Ahnung, wo sie überhaupt anfangen sollte.«
Bruno nickte und starrte auf die verkohlten Reste. »Ist doch seltsam, Albert. Was haben ein Aktenschrank und Bürokrempel hier draußen in einem Getreideschuppen verloren?«
»Tja, das da auf dem Tisch könnte ein Computer gewesen sein. Aber hier gibt’s doch keinen Strom. Vielleicht war’s eine alte Schreibmaschine.«
Bruno machte kehrt und überquerte gerade das verkohlte Feld, als plötzlich grelles Licht aufzuckte, unmittelbar gefolgt von einer heftigen Detonation und einer Hitzewelle, die ihn von hinten überrollte. Er drehte sich um und sah Albert vor den Trümmern der Hütte, aus der wieder hohe Flammen aufschossen, zu Boden sinken.

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