Zores
Autor: Andreas Pittler
Verlag: echomedia Buchverlag
Umfang: 248 Seiten
Kurzinformation zum Buch
Wien im März 1938. Die Nazis greifen nach Österreich, und das wankende Regime des Bundeskanzlers Schuschnigg sucht in einer eilig anberaumten Volksabstimmung über die Unabhängigkeit des Landes seine Rettung. Just da wird Oberst David Bronstein zu einem Tatort gerufen, an dem eine Nazigröße unsanft vom Leben zum Tode befördert wurde. Und während Bronstein versucht, diesen und noch einen weiteren Mord aufzuklären, mehren sich die Zeichen für einen „Anschluss“ Österreichs an das Dritte Reich. Für Bronstein ein doppelter Kampf gegen die Zeit …
Mit „Zores“ liefert Pittler das Finale seiner „Bronstein-Pentalogie“ ab: Stimmungs- und nuancenreich schildert er die letzten Stunden Österreichs und lässt dabei noch einmal die Protagonisten seiner Saga um die Erste Republik auftreten.
Leseprobe aus »Zores«
„Aber das gilt ja für alle Ideen, nicht! Wenn einer schon eine Idee hat, sage ich immer. Das ist ja alles eine Farce. Die Demokraten sind keine Demokraten, die Sozis keine Sozis und, wie sich jetzt herausstellt, die Kommunisten keine Kommunisten.“
„Ach so?“ Wie kam der ausgerechnet jetzt auf die Kommunisten?
„Na hören Sie! Lesen Sie keine Zeitungen? Der Stalin hat doch das ganze Zentralkomitee der Partei umbringen lassen. Jetzt ist, wie man hört, gerade der Bucharin dran. Dann gibt es nur noch den Trotzki. Aber der züchtet in Mexiko Rosen.“
Ohne dass er es wollte, schweiften Bronsteins Gedanken ab. Stalin. Dieser georgische Zwerg! Das war auch vor 25 Jahren gewesen. Just zu der Zeit, als ihm das Fräulein Johanna über den Weg gelaufen war. Und Trotzki hatte ihn sowieso eine wahre Ewigkeit begleitet. Zuerst wegen des gemeinsamen Nachnamens und dann wegen Jelka. Jelka! Wie es der wohl ging? Ob sie noch in der Tschechoslowakei war?
„… Aber das liegt natürlich alles nur daran, dass die breite Masse keine Kultur hat. Das gilt für alle Teile des Volkskörpers, verstehen Sie?“
Offenbar hatte Matuschek, während Bronstein seinen Gedanken nachgehangen war, einfach weitergeredet, sodass Bronstein sichtlich den Anschluss verpasst hatte.
„Oder sind Sie da anderer Meinung, Herr Oberst?“
„Äh …, durchaus … nicht.“
„Geben Sie’s zu, Sie haben mir gar nicht zugehört. Zumindest teilweise nicht, und darum haben Sie jetzt den Anschluss verpasst.“
„Na, das will ich doch sehr hoffen!“
„Was? Wollen Sie mich beleidigen?“
„Nein, durchaus nicht. Ich hab nur g’meint, den Anschluss, den würd ich nur zu gern verpassen.“ Dabei lächelte Bronstein aufmunternd. Nun verstand auch Matuschek. Doch er verzog seine Mundwinkel nicht nach oben.
„Das ist wieder typisch für die österreichische Rasse! Nur nix ernst nehmen. Immer ein Gspasettl machen. Und dabei übersehen wir vollkommen, dass wir ins Nichts gehen. Und das buchstäblich über Nacht. Nun ja, in gewisser Weise sind wir schon jetzt ein Nichts. Kartographisch, politisch und, na ja, kulturell sowieso. Österreich ist auf der Weltbühne seine eigene Tragödie. Doch was wenigstens anderswo auch im Untergang noch eine gewisse Größe haben könnte, das vollzieht sich hier im Rahmen einer Schmierenkomödie. Die Vollendung unseres Schicksals, sie sollte endloser Schrecken sein – und ist doch einfach nur erbärmlich.“
„Ja, damit könnten S’ durchaus Recht haben, Herr Hofrat. Aber in der Causa Suchy hilft mir diese Erkenntnis auch nicht gerade weiter.“
Matuschek fühlte sich aus seinem Gedankenflug jäh zu Boden gezogen. Für einen Augenblick mahlten seine Kiefer in dem Bemühen, der Versuchung, mit dem begonnenen Vortrag einfach fortzufahren, zu widerstehen. Dann sagte Matuschek leichthin: „Das, lieber Herr Oberst, kann nicht so schwer sein. Cui bono!“
„Wie belieben?“
„Na, cui bono. Schau’n S’ einfach, wer von Suchys Tod profitiert, und Sie haben den Täter.“
„Ja, wenn es nur so leicht wär“, seufzte Bronstein.
„Na, fragen S’ einmal den alten Frank da drüben. Da können S’ in jedem Fall was lernen. Und sei es auch nur, wie tief wir in diesem Land schon gesunken sind.“
Bronstein war sich sicher, aus dem alten Matuschek nichts mehr von Relevanz in Erfahrung bringen zu können. Also dankte er für den Rat, erhob und verabschiedete sich. Drei Minuten später klopfte er an eine Tür, auf der sich ein Schild befand, auf welches in altdeutschen Lettern der Name Frank gemalt war.
Ein kahlköpfiger Schnauzbartträger mit Stiernacken und leuchtend roter Nase öffnete. Der Mann schien unter latentem Bluthochdruck zu leiden, denn seine Hautfarbe war mehr als ungesund. Das war sein Gewicht wohl auch, denn obwohl der Mann um einiges kleiner war als Bronstein, wog er sicher weit mehr als hundert Kilo. Feindselig starrte er sein Gegenüber an. „Was is?“
„Guten Tag, Oberst Bronstein von der Mordkommission. Ich …“
„Mit an Juden red i nix.“ Frank schickte sich an, die Tür wieder zu schließen. Bronstein stellte den Fuß dazwischen.
„Sie können sich gern mit meinen arischen Kollegen unterhalten. Auf der Elisabethpromenade. Nachdem wir Sie dort 72 Stunden dunsten haben lassen. Und dummerweise vergessen die Justizwachebeamten dort dauernd auf die Menage für die Häftlinge.“ Dabei lächelte Bronstein geringschätzig. Frank schien tatsächlich ins Schwanken zu kommen. Dann aber fasste er sich wieder: „A wos, in 72 Stunden g’hört des Land schon uns.“
„Umso blöder, dass just am Weg zur Sissi so ein blöder Unfall passiert sein wird. Alle Nazis jubeln – und Sie sind einfach nur tot.“
„Wollen S’ mir drohen?“ Frank klang fraglos ängstlicher als es ihm lieb war.
„Schauen S’, Herr Frank, jetzt reden Sie ja eh schon mit einem Juden. Da können S’ mir doch die paar Auskünfte, die ich haben will, auch noch geben. Und dann bin ich auch schon weg, und nix is g’schehen.“
Frank zögerte.
„Sonst muss ich wirklich den Kollegen Schwarz holen, der grad im ersten Stock bei der Vejvoda ist. Und da können Sie sich ja vorstellen, dass der ned grad in guter Laune ist, wenn er da raufkommt. Außerdem is des ein Kerl von zwei Meter und war früher Berufsringer. Und er hat seine Aggressionen nie im Griff. Also was ist, Herr Frank? Halten Sie’s aus ein paar Minuten – mit mir?“
„Wenn’s sein muss. Aber reinlassen in meine Wohnung tu ich Sie nicht.“
„Passt schon. Sagen Sie mir nur, was Ihnen zum Mord an Ihrem Parteigenossen Suchy einfällt.“
Jetzt sah Frank ehrlich überrascht aus: „Was, der Walter ist … ermordet, sagen Sie?“
„Sagen Sie bloß, das hat sich noch nicht bis zu Ihnen durchgesprochen?“
„Nein. Hat es nicht.“ Frank hielt sich an der Tür fest. Bronstein konstatierte etwas Gehetztes in Franks Blick. Der Mann schien ehrlich betroffen zu sein. Und das Flackern in den Augen verriet, dass der Dicke Angst hatte.
„Es ist heute in der Nacht geschehen. Irgendwann zwischen zehn Uhr abends und sechs Uhr früh. Haben Sie da irgendetwas bemerkt?“
„Ich bin kurz nach zehn ins Bett gangen. Vorher hab ich noch eine Zigarette g’raucht. Dabei hab ich auf die Gasse g’schaut und g’seh’n, wie der Schönberger grade weggeht. Mit einem zweiten Parteigenossen, den ich aber von hinten nicht erkannt hab. Ich hab mir noch denkt: Lieb Vaterland, magst ruhig sein. Und dann hab ich mich niederg’legt. Bin gleich eing’schlafen. Und um sieben wieder auf. So wie jeden Tag. Mehr kann ich nicht sagen. Ehrlich ned!“
Ohne zu wissen warum, glaubte Bronstein dem Nazi. Er hätte nur zu gerne gewusst, wovor der sich fürchtete. „Hat der Herr Suchy irgendwelche Feinde g’habt?“
„Sie machen mir Spaß. No na ned! Wie jeder in der Bewegung! Juden, … Tschuldigen schon, … Sozis, Kommunisten, … na und die Schergen vom Schuschnigg erst recht. Da kommt ganz schön was z’samm.“
„Und hätten S’ einen konkreten Verdacht auch? Ich mein’, die Jedlicka hat ausgesagt, nach zehn Uhr abends ist da niemand mehr hereingekommen in das Haus. Könnte es eine von den Parteien gewesen sein?“
Frank schüttelte nur den Kopf. „Von denen hätt sich das keiner getraut.“
„Wie war eigentlich Ihr Verhältnis zum Herrn Suchy?“
„Wie soll das schon g’wesen sein? Er war überall mein Ober. Da im Haus, in der Partei und in der SA aa. Und zu mir war er immer sehr korrekt, falls Sie das wissen wollen.“
„Na gut, Herr Frank. Das war’s auch schon wieder. Ich würde Sie allerdings bitten, sich zu unserer Verfügung zu halten, falls wir noch etwas von Ihnen brauchen. Fürs Erste einen guten Tag zu wünschen.“
Der Frank schlug plötzlich die Hacken zusammen und riss den rechten Arm nach oben: „Heil Hitler!“, brüllte er und wurde von der Anstrengung der Aktion nur noch röter im Gesicht. Bronstein unterdrückte eine bissige Replik und begab sich auf die Treppe, die in das nächste Stockwerk führte.
Dort klopfte er zuerst bei Stadlers. Eine löwenmähnige Brünette öffnete die Tür. Die Frau war nur mit einem seidenen Morgenmantel bekleidet, der ihrer Kurven jedoch nicht einmal ansatzweise Herr wurde. Die riesigen Brüste drängten ebenso ins Freie wie der üppige Bauch, dessen Nabel trotz des Gürtels, der das Textil zusammenhalten sollte, sichtbar war. Die Augen der Frau verengten sich zu Schlitzen, während sie sich in verführerischer Absicht über die Lippen leckte.
„Wen haben wir denn da? Ein potentes Mannsbild, will ich meinen“, schnurrte die Stadler.
„Oberst Bronstein von der Mordkommission. Ich komme wegen …“
„… dem Suchy. Schon klar. Kommen S’ doch erst einmal herein, Herr Oberst. Da redet sich’s doch gleich viel leichter.“
Bronstein war sich nicht sicher, ob er dieser Einladung alleine Folge leisten sollte. Die gute Dame schien ihm nicht ganz geheuer. Doch obsiegte seine Neugier, und so folgte er der Stadler in die Küche der Wohnung. Dort begann die Frau an einer Kaffeemaschine herumzuhantieren. „Sie mögen doch sicher einen Kaffee, Herr Oberst, oder? So richtig heiß und verführerisch süß.“ Dabei formte sie ihre Lippen zu einem Schmollmund.
„Um ehrlich zu sein …“
„Aber sicher wollen Sie. Das sehe ich Ihnen doch an. … Hoppala.“ Nachgerade penetrant absichtlich hatte die Stadler einen Kaffeelöffel fallen lassen. Sie lüpfte ihren Schlafrock, sodass Bronstein die ebenso mächtigen wie milchigen Schenkel der Frau sehen konnte, während sie sich in reichlich peinlicher Pose um das Besteck bückte. Es entging ihm nicht, dass sie dabei an ihrem Gürtel herumnestelte. Als sie sich wieder aufrichtete, geschah, was sie offenbar beabsichtigt hatte. Der Gürtel ging auf, und der Morgenmantel öffnete sich. Für einen Moment hatte Bronstein freien Blick auf die Rubensfigur der Stadler. In unendlicher Langsamkeit schloss sie den Rock wieder, wobei sie freilich so tat, als hätte sie in Windeseile auf den vermeintlichen Fauxpas reagiert. „Na so etwas, peinlich, gell?!“ Dabei kicherte sie. Bronstein hätte die Aussage gerne bestätigt.
„Kennen Sie übrigens ein anderes Wort für zwangsläufig, Herr Oberst?“, fuhr die Stadler einstweilen fort.
Bronstein erwischte die Frage auf dem falschen Fuß. „Äh, nein“, sagte er nur.
„Nymphoman!“ Die Stadler lachte eine Spur zu laut und zu schrill.
„Also, zur Sache“, ignorierte Bronstein die Anzüglichkeiten der Stadler, „der Suchy. Wie war der so?“
Die Stadler schien wild entschlossen, sich nicht so leicht abweisen zu lassen. „A Zniachterl war des. Ned so wie Sie, Herr Inspektor.“
Unweigerlich musste Bronstein lachen. Er hatte Suchy auf dem Boden liegen gesehen, und „Zniachterl“ war das letzte, was ihm zu dieser Leibesfülle eingefallen wäre. Die Frau musste es wirklich dringend nötig haben.
„Ihr Mann ist Friedhofsgärtner?“ Bronstein versuchte, die Stadler durch die Erwähnung ihres Gemahls einzubremsen.
„Ja“, sagte sie bitter, „und das passt a zu eam. Da wie durt is afoch nix mehr los, is ollas tot.“
„Tot ist das Stichwort. Zurück zum Suchy. Haben Sie heute Nacht irgendetwas bemerkt?“
„Heast, Kieberer, hast an Stecken verschluckt oder wos?“ Die Stadler stellte den mittlerweile fertig gebrühten Kaffee auf den Küchentisch und beugte sich bedrohlich nahe zu Bronstein hinab. „Wos bist denn gar so steif? Vor allem am völlig falschen Platz.“
„Frau Stadler. Ich bin eine Amtsperson. Wenn Sie also bitte davon Abstand nehmen könnten, eine persönliche Vertrautheit zu insinuieren …“
„Zu insinuieren? Na, Sie machen mir Spaß. San Sie vielleicht a Warmer oder was?“ Die Stadler schien die Geduld zu verlieren. „Da renn i praktisch nackert durch die Gegend und servier mich Ihnen quasi auf dem Silbertablett – und Sie reagieren ned amoi. San Sie hinig oder impotent oder wos?“
Die Stimme der Stadler hatte einen schneidenden Ton angenommen.
„Weder noch. Aber Sie sind ziemlich impertinent, das muss ich Ihnen schon sagen.“
Jetzt verlor die Stadler endgültig die Contenance. „Geh schleich di, du Impotenzler!“, schrie sie mit sich überschlagender Stimme, „waun mei Mann hamkummt, dann tögelt er di die Stiagn obe! Oba wia aa no!“
Instinktiv richtete sich Bronstein auf: „Na aber hallo! Jetzt reicht’s aber! Beruhigen S’ Ihnen, aber gach aa no! So wos hab i ja überhaupt no ned erlebt!“
„Überhaupt no ned erlebt“, äffte sie ihn nach. „Des hamma schon gern. Z’erst aner verheirateten Frau schöne Augen machen und daun so tuan, ois warat nix g’wesen. Oba des sog i da, Kieberer, i werd’ mi über di beschweren.“
„Jo, moch des, du mannstolle Urschel. Oba am Salzamt!“
Die Stadler sah nun endgültig aus wie eine Erinnye. „Drah di, oba gaunz schnöö! Sunst kennen deine Kollegen glei in zwa Mord’ ermitteln.“
Und auch wenn es ihm peinlich war, spürte Bronstein doch eine gewisse Angst in sich aufsteigen. Ohne den Versuch zu unternehmen, die Befragung irgendwie fortzusetzen, stand er auf und ging laut fluchend zur Tür. „Depperte Funsen, depperte. Mit so wos stell i mi doch gar ned hin!“
Erleichtert atmete er auf, als er wieder auf dem Gang stand und die Wohnungstür hinter sich geschlossen wusste.
Nun blieben noch die Lehners. Ein weiteres Mal pochte er an eine Pforte. Es war die Tochter, die öffnete. „Sie wünschen?“
Abermals stellte Bronstein sich vor. „Haben Sie heute Nacht irgendetwas Außergewöhnliches bemerkt? Sie, oder Ihre Eltern?“
„Sie kommen sicher wegen dem Suchy. Tut mir leid, Herr Oberst, aber ich kann Ihnen gar nicht helfen. Meine Eltern sagen immer, ich schlaf wie ein Toter. Und heute bin ich schon kurz nach neun ins Bett gangen, weil ich gestern a wichtige Arbeit hab schreiben müssen in der Berufsschul’. Wenn also wer was g’hört oder g’seh’n hat, dann meine Eltern. Aber die sind beide im G’schäft.“
Bronstein nickte. Es war nicht zu erwarten, dass er von dem Mädchen irgendetwas von Relevanz erfahren würde. Also konnte er die Vernehmungen fürs Erste als abgeschlossen betrachten. Die Eltern würde er sich zu einem anderen Zeitpunkt vornehmen. Jetzt sah er zu, dass er wieder nach unten zu Cerny kam.
Der war tatsächlich immer noch mit der Sichtung der Wohnung beschäftigt, wobei sein Tun lebhaft von der Winter kommentiert wurde. Als Cerny Bronstein die Wohnung betreten sah, atmete er erleichtert auf und ging auf seinen Vorgesetzten zu. „Die nervt vielleicht, kann ich dir sagen“, zischte er.
Bronstein konnte Cernys Aussagen nur bestätigen. Aber in diesem Haus nervten – mit der bemerkenswerten Ausnahme der Frau Raczek – alle Parteien, und das nachhaltig. Bronstein bewegte seinen Kopf auf Cerny zu. „Die ganze Hütten da ist ein einziges Narrenhaus. Schau’n wir, dass wir weiterkommen“, raunte er. Die beiden verabschiedeten sich andeutungsweise von der Winter und gingen dann die Treppe abwärts zum Haustor. Wieder im Freien, wandten sie sich nach links, um auf diese Weise wenig später die Alser Straße zu erreichen. Vorbei am Landesgericht, hielten sie auf die Universität zu, vor der sich ein Menschenknäuel gebildet hatte. Cerny und Bronstein brauchten nicht viel Phantasie, um zu ahnen, was der Grund für diesen Auflauf war. Schon von weitem erkannten sie die riesigen Fahnen mit der schwarz-weiß-roten Drittelung. Bronstein ärgerte sich. Die Nazis waren leider nicht blöd. Die offizielle Flagge des Reichs, die rote mit dem Hakenkreuz, war natürlich verboten, doch die alte Kaiserfahne, die seit 1935 nicht mehr als offizielles Symbol Deutschlands galt, war rechtlich unangreifbar, obwohl jeder wusste, was damit signalisiert werden sollte. Immerhin hatte die nationale Rechte dieses Banner auch all die Jahre mitgeführt, da offiziell Schwarz-Rot-Gold den nördlichen Nachbarn symbolisierte, und Bronstein erinnerte sich daran, wie die Nazis diese Kombination als „Schwarz-Rot-Mostrich“ verunglimpft hatten. Doch das Weimarer Tuch war mittlerweile ebenso Geschichte wie die Republik, für welche es gestanden war. Und wer vermochte zu sagen, wann es auch mit Rot-Weiß-Rot vorbei sein würde.
Mit einem flauen Gefühl im Magen erreichten sie das Präsidium. „Weißt was, Cerny, du machst uns jetzt einmal einen starken Kaffee, und dann halten wir eine Lagebesprechung ab.“ Cerny nickte nur und begab sich in die Teeküche, dieweilen Bronstein gravitätisch seinem Büro zustrebte.
Er hatte kaum an seinem Schreibtisch Platz genommen, als Cerny den Raum betrat. Sorgsam schloss dieser hinter sich die Tür. „Was gibt’s?“, fragte Bronstein, den Cernys Verhalten neugierig gemacht hatte.
Cernys Gesichtsausdruck ließ erahnen, dass er nicht mit guten Neuigkeiten gekommen war. „Ich habe aus sicherer Quelle erfahren, dass der Schuschnigg heute noch die Volksabstimmung absagen wird. Und mein Informant sagt auch, dass noch heute Abend, spätestens aber morgen Seyß-Inquart zum Bundeskanzler ernannt wird.“
Bronstein ließ sich nach hinten auf die Sessellehne plumpsen. „Cerny!“, rief er aus. „Wer lässt dich denn so einen Mist glauben?“
„Aber wenn ich es dir sage. Das kommt von absolut zuverlässiger Seite.“
„Jetzt glaub doch nicht jedes Schauermärchen, Cerny. Der Schuschnigg sagt die Volksabstimmung nie und nimmer ab. Dafür ist er viel zu gerne Bundeskanzler. Und genau deshalb wird er sich einem solchen Vorgehen auch niemals beugen.“
„Die haben ihm damit gedroht, dass die Wehrmacht bei uns einmarschiert, wenn er nicht klein beigibt.“
„Jetzt mach aber einmal einen Punkt. Das ist doch absurd.“ Bronstein machte eine vage Geste, die ziemlich italienisch aussah, ohne dass man erahnen konnte, was sie konkret bedeuten mochte. „Ich sehe ihn förmlich vor mir, den fetten Göring, wie er da auf den Tisch haut. Na und? Wen kratzt der?“ Bronstein lächelte. Er äffte Göring nach: „Und wenn nicht, dann Wasser marsch!“
„Du, David, das ist kein Spaß!“ Cernys Stimme hatte eine eindringliche Note angenommen. „Die Information kommt aus einer absolut zuverlässigen Quelle. Wenn der Schuschnigg nicht zurücktritt, dann marschieren die Nazis ein. Und du weißt, was das für jemanden wie dich bedeutet.“
„Ein so ein Topfen! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass der sich das traut, der Hysteriker aus Braunau, der. Da machen doch der Engländer und der Franzos nie mit.“ Bronstein hob die Hand, um Cernys Entgegnung Einhalt zu gebieten. „Ich weiß genau, was du jetzt sagen willst. Aber das Rheinland und die G’schichte an der Saar, das waren letztlich innerdeutsche Angelegenheiten. Da hat er sich nur zurückgeholt, was sowieso Deutschland gehört. Aber bei Österreich ist das etwas anderes. Darum muss die Entente da auch einschreiten. Außerdem lässt sich das der Mussolini sicher auch nicht so ohne Weiteres gefallen.“
„Da mach dir amal bloß keine Illusionen. Die Alliierten werden tatenlos zuschauen, das sag ich dir! Und weißt du auch, warum? Weil wir uns in den letzten Jahren um jede Sympathie gebracht haben, die wir vielleicht noch irgendwo besessen haben. Und die Menschen haben den Ständestaat ohnehin satt. Für die ist der Hitler die Erlösung.“
„Komm, komm, Cerny, jetzt übertreibst aber gewaltig. Sicher, die Nazis sind in den letzten Jahren nicht gerade weniger geworden. Aber mehr als zehn Prozent der Bevölkerung haben die nie und nimmer hinter sich.“
Cerny sah Bronstein mit ernster Miene an: „Ich bin der Erste, der sich freut, wenn ich unrecht habe. Aber wir sollten die Möglichkeit einer Machtübernahme durch die braunen Horden immerhin in Erwägung ziehen. Ich …“
„Jetzt sollten wir einmal in Erwägung ziehen, wer den Suchy g’macht hat“, erklärte Bronstein bestimmt. „Pflichtest du mir bei, wenn ich sage, aus dem Haus war’s niemand?“
Cerny seufzte und sagte dann: „Ja, ein Motiv ist da nirgendwo zu entdecken.“
„Genau. Und Motive gibt es in dieser Sache drei: das Erbe, also ein finanzielles Motiv, die Politik und Rache.“
„Du meinst, irgendein Vater hat das mit den Kindern spitzgekriegt und deswegen zugeschlagen?“
„Na ja, möglich wär’s immerhin! Wir müssen also herausfinden, wer aller beim Suchy Unterricht bekommen hat. Außerdem haben wir seinen Notar oder Anwalt zu finden, um feststellen zu können, wer ihn beerbt. Und schließlich wird man den braunen Lokalgrößen auf den Zahn fühlen müssen. Dem Frauenfeld, dem Suchenwirth und dem Neubacher, würde ich einmal meinen.“
Cerny lachte auf. „Du machst mir wirklich Spaß. Da stehen die ganz knapp davor, die Macht im Staat zu übernehmen, und da willst du, der in ihren Augen einer von den Juden ist, die gleich nach der Machtübernahme entfernt werden sollen, die verhören? Die lassen dich einfach totschlagen im Moment. Fertig und aus!“
„Cerny, schön langsam gehst mir am Nerv mit deinen Untergangsvisionen. Du kannst mir den Hobel ausblasen mit dera G’schicht’. Mir ist wurscht, was da rundherum passiert. Der Frauenfeld und die anderen, die sind potenziell verdächtig. Und daher werd ich sie mir vorknöpfen. Ganz einfach.“
„Die werden dich gar nicht vorlassen. Und der Frauenfeld ist in Deutschland. Den kannst also überhaupt vergessen.“
In Bronstein stieg allmählich die Wut hoch. Cerny hatte ja recht, das ließ sich nicht leugnen. Aber er, Bronstein, war noch nie in einer solchen Lage gewesen. Er fühlte sich hilf- und wehrlos. Was, wenn Cernys Prophezeiungen wahr wurden? Er wüsste ja nicht einmal, wohin er fliehen sollte. Er kannte keine Menschenseele in Ungarn, der Tschechoslowakei oder Jugoslawien. Und er besaß kaum genügend Barmittel, um irgendwo in der Fremde länger als ein paar Wochen über die Runden zu kommen. Unwillkürlich musste er an diesen Ort an der Côte d’Azur denken, dieses Sanary-sur-Mer, wo sich die ganze deutsche Hautevolee ein Stelldichein gab. Jemand wie er würde dort gerade zweimal übernachten können, dann wäre er vollkommen pleite.
Ach was!, sagte er sich. Er löste jetzt einmal diesen Fall, alles andere war im Augenblick sekundär.
„Also, Cerny, find heraus, wer für den Suchy notariatsmäßig zuständig ist. Ich frag derweil noch einmal diese Jedlicka, ob sie wenigstens von einem der Buben den Namen kennt. Vielleicht kommen wir ja so weiter.“
Cerny seufzte abermals und verließ dann wortlos das Büro. Bronstein griff nach seinen Zigaretten und zündete sich eine an. Dabei merkte er, wie seine Hand zitterte. Offenbar ging ihm die ganze Sache doch mehr an die Nieren, als ihm bewusst war. Er schüttelte sich und sog dann gierig den Rauch ein. Der Konsum des Nikotins ließ ihn etwas ruhiger werden. Was also, so fragte er sich, war zu tun? Am besten, er begab sich zurück in die Skodagasse und versuchte dort, irgendwelche Namen von Kindern in Erfahrung zu bringen, die Suchy unter seinen Fittichen gehabt hatte.
Er hatte sich eben erhoben, als das Telefon läutete. Er ließ sich wieder auf den Sessel plumpsen und hob den Hörer aus der Gabel. Vorschriftsmäßig meldete er sich.
„Schwester Aurelia hier. Vom Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern in der Stumpergasse. Sagt Ihnen, Herr Oberst, der Name Pokorny etwas?“
Bronstein fuhr auf: „Der Pokorny! Ja sicher! Was ist leicht mit ihm?“
„Er hat ein Schlagl g’habt. Und es könnt besser ausschauen, auch wenn’s, Gott sei’s gedankt, durchaus noch Hoffnung gibt. Wir haben ihn g’fragt, ob wir irgendjemanden verständigen sollen, und da hat er uns Ihren Namen genannt, Herr Oberst. Und deswegen ruf ich an.“
„Jessasmarandana! Der Pokorny! Ja, um Himmels willen! Kann man ihn besuchen?“