Percy Jackson - Die letzte Göttin
Autor: Rick Riordan
Verlag: Carlsen
Umfang: 464 Seiten
Kurzinformation zum Buch
Übersetzt von Gabriele Haefs
Jetzt sind Percy und seine Freunde gefragt: Ihr Todfeind Kronos holt zum letzten Schlag aus und marschiert auf den Olymp zu, mitten ins Herz von New York - dabei sind doch die olympischen Götter alle ausgezogen, um gegen das wiedererstandene Monster Typhon zu kämpfen!
Gemeinsam mit den Jägerinnen der Artemis und den zum Leben erweckten Denkmälern der Stadt versuchen die jungen Halbblute, den Sitz der Götter zu verteidigen, aber zu allem Unglück haben sie auch noch einen Spion in den eigenen Reihen.
Gut, dass wenigstens eine Göttin im Olymp zurückgeblieben ist ...
Leseprobe aus »Percy Jackson - Die letzte Göttin«
Ich gehe mit einer Ladung Sprengstoff auf Kreuzfahrt
Ich gehe mit einer Ladung Sprengstoff auf Kreuzfahrt Das Ende der Welt begann damit, dass ein Pegasus auf der Motorhaube meines Wagens landete. Bis dahin war es ein toller Nachmittag gewesen. An sich sollte ich ja gar nicht Auto fahren, weil ich erst in einer Woche sechzehn werden würde, aber meine Mom und mein Stiefvater, Paul, waren mit meiner Freundin Rachel und mir zu einem Privatstrand am South Shore gefahren, und Paul lieh uns für eine kurze Tour seinen Prius. Ich weiß, ihr denkt jetzt, Also, das war aber wirklich unverantwortlich von dem Mann, aber Paul kennt mich ziemlich gut. Er hat gesehen, wie ich Dämonen aufgeschlitzt habe und aus explodierenden Schulhäusern gesprungen bin, und da dachte er wohl, mit einem Auto ein paar Hundert Meter zu fahren, wäre nicht gerade die gefährlichste Unternehmung meines Lebens.
Jedenfalls fuhren Rachel und ich also los. Es war ein heißer Tag im August. Rachel hatte sich ihre roten Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug eine weiße Bluse über ihrem Badeanzug. Ich hatte sie bisher immer nur in zerfetzten T-Shirts und mit Farbe beklecksten Jeans gesehen, und sie sah aus wie eine Million goldene Drachmen.
»Ach, halt hier doch mal eben!«, sagte sie zu mir. Wir hielten an einem Felsabsatz mit Blick auf den Atlantik. Ich bin immer sehr gern am Meer, aber an diesem Tag war es besonders schön – grün glitzernd und glatt wie Glas, als ob mein Dad es nur für uns ruhig hielte. Mein Dad, übrigens, ist Poseidon. Er macht so was mit links.
»Also«, Rachel lächelte mich an.
»Was diese Einladung angeht.«
»Ach … richtig.« Ich versuchte, mich begeistert anzuhören. Ich meine, sie hatte mich für drei Tage in das Ferienhaus ihrer Familie auf St. Thomas eingeladen. Oft bekam ich solche Angebote nicht. Der Traumurlaub meiner Familie besteht aus einem Wochenende in einer heruntergekommenen Hütte auf Long Island, mit ein paar geliehenen Filmen und Tiefkühlpizzen, aber jetzt wollten Rachels Eltern mich in die Karibik mitschleifen.
Außerdem war ich total urlaubsreif. Es war der härteste Sommer meines Lebens gewesen. Die Vorstellung einer Pause, und sei es nur für einige Tage, war wirklich verlockend. Aber gerade jetzt könnte jeden Tag etwas Wichtiges passieren. Ich hatte sozusagen Bereitschaftsdienst für einen Einsatz. Und schlimmer noch, in der folgenden Woche war mein Geburtstag. Es gab eine Weissagung, nach der an meinem sechzehnten Geburtstag etwas Schreckliches passieren würde.
»Percy«, sagte Rachel.
»Ich weiß, das Timing ist nicht gut. Aber das ist es für dich doch nie, oder?« Da hatte sie nicht Unrecht.
»Ich möchte ja wirklich gern mitkommen«, beteuerte ich.
»Es ist bloß …«
»Der Krieg.«
Ich nickte. Ich sprach nicht gern darüber, aber Rachel wusste Bescheid. Anders als die meisten anderen Sterblichen konnte sie durch den Nebel blicken – den magischen Schleier, der den Blick der Menschen verstellt. Sie hatte Monster gesehen. Sie war einigen der anderen Halbgötter begegnet, die gegen die Titanen und deren Verbündete kämpften. Sie war sogar im vergangenen Sommer dabei gewesen, als der zerstückelte Titanenherrscher Kronos in einer entsetzlichen neuen Gestalt aus seinem Sarg gestiegen war, und sie hatte sich für immer meine Achtung verdient, als sie ihm eine blaue Plastikbürste ins Auge gepfeffert hatte. Sie legte mir die Hand auf den Arm.
»Überleg es dir einfach, ja? Wir brechen ja erst in zwei Tagen auf. Mein Dad …« Ihre Stimme versagte.
»Macht er dir das Leben schwer?«, fragte ich. Rachel schüttelte angeekelt den Kopf.
»Er versucht, nett zu mir zu sein, und das ist fast noch schlimmer. Er will mich im Herbst auf die Clarion Ladies Academy schicken.«
»Ist das die Schule, die auch deine Mom besucht hat?«
»Das ist so eine blöde Anstalt, wo Mädchen gesellschaftlichen Schliff beigebracht kriegen. Kannst du dir mich auf so einer Damenschule vorstellen?« Ich gab zu, dass ich die Vorstellung ziemlich absurd fand. Rachel interessierte sich für großstädtische Kunstprojekte und Aktionen für Obdachlose und sie ging zu Demos zur Rettung des aussterbenden gelbbäuchigen Saftsaugers und so. Ich hatte sie nie auch nur in einem Kleid gesehen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie perfekte Manieren lernen sollte. Sie seufzte.
»Er glaubt, wenn er so ungefähr alles für mich tut, dann kriege ich ein schlechtes Gewissen und gebe nach.«
»Weshalb er auch bereit ist, mich mit euch in den Urlaub fahren zu lassen?«
»Ja … aber Percy, du würdest mir einen riesigen Gefallen tun. Alles wäre so viel besser, wenn du mit uns kämst. Und außerdem möchte ich etwas mit dir be...« Sie verstummte ganz plötzlich.
»Du möchtest etwas mit mir besprechen?«, fragte ich.
»Du meinst … es ist so ernst, dass wir nach St. Thomas fahren müssen, um darüber zu reden?« Sie verzog den Mund.
»Ach, vergiss das erst mal. Lass uns so tun, als ob wir zwei ganz normale Menschen wären. Wir machen einen Ausflug und schauen uns das Meer an und es ist nett, zusammen zu sein.« Ich merkte ja, dass sie irgendwas belastete, aber sie setzte ein tapferes Lächeln auf. Im Sonnenschein sahen ihre Haare aus wie Feuer.
Wir hatten in diesem Sommer sehr viel Zeit miteinander verbracht. Ich hatte das eigentlich nicht vorgehabt, aber je mehr sich die Lage im Camp zuspitzte, umso größer wurde mein Bedürfnis, Rachel anzurufen und von dort wegzukommen, einfach, um Atem zu holen. Ich musste mich daran erinnern, dass es dort draußen noch immer eine Welt der Sterblichen gab, weit weg von all den Monstern, die mich für ihren persönlichen Punchingball zu halten schienen.
»Okay«, sagte ich.
»Einfach ein normaler Nachmittag und zwei normale Menschen.«
Sie nickte.
»Und nur mal rein theoretisch, wenn diese beiden Menschen einander leiden könnten, was müsste passieren, damit der blöde Typ das Mädchen küsst, hm?«
»Oh …« Ich kam mir vor wie eine der heiligen Kühe des Apollo: träge, blöd und knallrot.
»Öh …« Ich kann nicht behaupten, dass ich nicht viel an Rachel gedacht hätte. Es war so viel leichter, mit ihr zusammen zu sein als mit … na ja, als mit einigen anderen Mädchen, die ich kannte. Ich musste mir keine große Mühe geben oder meine Worte auf die Goldwaage legen oder mir das Gehirn zermartern bei dem Versuch, ihre Gedanken zu erraten. Rachel verbarg nicht viel. Sie sagte einfach, wie ihr zu Mute war. Ich bin nicht sicher, was ich als Nächstes getan hätte – aber ich war so abgelenkt, dass ich die riesige schwarze Gestalt, die vom Himmel herabschoss, erst bemerkte, als vier Hufe mit einem WUMP-WUMP-KRACH auf der Motorhaube des Prius landeten.
He, Boss, sagte eine Stimme in meinem Kopf. Nette Karre! Blackjack der Pegasus war ein alter Freund, deshalb versuchte ich, mich über die Krater, die er soeben in die Motorhaube getreten hatte, nicht zu sehr zu ärgern; aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Stiefdad entzückt davon sein würde.
»Blackjack«, seufzte ich.
»Was willst du …« Dann sah ich, wer auf seinem Rücken saß, und ich wusste, dass dieser Tag noch viel komplizierter werden würde.
»Hi, Percy.« Charles Beckendorf, Hüttenältester in der Hephaistos- Hütte, hätte die meisten Monster nach ihrer Mama schreien lassen. Er war riesig, hatte gewaltige Muskeln, weil er jeden Sommer in der Schmiede arbeitete, war zwei Jahre älter als ich und einer der besten Waffenschmiede im Camp. Er stellte wirklich geniale Apparate her. Einen Monat zuvor hatte er auf dem Klo eines Ausflugsbusses, der eine Bande von Monstern durch das Land kutschierte, eine griechische Feuerbombe hergestellt. Die Explosion riss eine ganze Legion von Kronos’ fiesen Kumpels mit sich, sowie die erste Harpyie die Spülung betätigte. Beckendorf trug seine Kampfausrüstung. Eine bronzene Brustplatte und einen Kriegshelm, dazu eine schwarze Tarnhose und ein umgeschnalltes Schwert. Seine Sprengstofftasche hatte er sich über die Schulter geworfen.
»Ist es so weit?«, fragte ich. Er nickte düster.
Ich spürte einen Kloß im Hals. Ich hatte gewusst, dass der Tag kommen würde. Wir bereiteten uns schon seit Wochen darauf vor, aber irgendwie hatte ich doch gehofft, dass es niemals passieren würde. Rachel schaute zu Beckendorf hoch.
»Hallo.«
»Ach, hi. Ich bin Beckendorf. Und du musst Rachel sein. Percy hat mir erzählt … äh, ich meine, er hat dich mal erwähnt. «
Rachel hob eine Augenbraue.
»Echt? Gut.« Sie schaute zu Blackjack hinüber, der mit seinen Hufen auf die Motorhaube des Prius trommelte.
»Ich vermute mal, ihr Jungs müsst jetzt die Welt retten.«
»So ungefähr«, sagte Beckendorf zustimmend. Ich sah Rachel hilflos an.
»Würdest du meiner Mom sagen …«
»Mach ich. Sie ist sicher schon daran gewöhnt. Und das mit der Motorhaube erkläre ich Paul.« Ich nickte zum Dank. Ich befürchtete, dass Paul mir wohl zum letzten Mal sein Auto geliehen hatte.
»Viel Glück.« Rachel küsste mich, ehe ich überhaupt reagieren konnte.
»Und jetzt los, Halbblut. Bring ein paar Monster für mich um.« Als ich ein letztes Mal zurückblickte, saß sie mit verschränkten Armen auf dem Beifahrersitz des Prius und sah zu, wie Blackjack immer höher kreiste und Beckendorf und mich in den Himmel trug. Ich hätte gern gewusst, worüber Rachel mit mir sprechen wollte, und ich fragte mich, ob ich wohl lange genug leben würde, um es in Erfahrung zu bringen.
»Also«, sagte Beckendorf.
»Ich gehe mal davon aus, dass ich diese kleine Szene Annabeth gegenüber nicht erwähnen soll.«
»Bei allen Göttern«, knurrte ich.
»Denk da nicht mal dran.«
Beckendorf kicherte und zusammen schossen wir über den Atlantik davon.
Es war fast dunkel, als wir unser Ziel erreichten. Die Prinzessin Andromeda leuchtete am Horizont – ein riesiges gelb und weiß beleuchtetes Kreuzfahrtschiff. Aus der Ferne konnte man es einfach für ein Partyschiff halten anstatt für das Hauptquartier des Titanenherrschers. Im Näherkommen bemerkte man dann die riesige Galionsfigur – ein dunkelhaariges Mädchen in einem griechischen Chiton, mit Ketten umwickelt und mit total verängstigtem Gesicht, als ob sie den Gestank der vielen Monster riechen könnte, die sie transportieren musste.
Beim Anblick des Schiffes verkrampfte sich alles in mir. Ich wäre auf der Prinzessin Andromeda zweimal fast ums Leben gekommen. Jetzt steuerte sie geradewegs New York an.
»Du weißt, was wir zu tun haben?«, schrie Beckendorf durch den lauten Wind. Ich nickte. Wir hatten in den Docks von New Jersey geübt, mit verlassenen Schiffen als Zielscheiben. Ich wusste, wie wenig Zeit wir haben würden. Aber ich wusste auch, dass dies unsere größte Chance war, Kronos’ Invasion zu beenden, ehe sie wirklich angefangen hatte.
»Blackjack«, sagte ich.
»Setz uns auf dem untersten Deck achtern ab.« Alles klar, Boss, sagte er. Mann, ich hasse den Anblick dieses Kahns. Drei Jahre zuvor war Blackjack auf der Prinzessin Andromeda gefangen gehalten worden, hatte dann aber mit Hilfe von meinen Freunden und mir selbst entkommen können. Ich glaube, er würde sich lieber wie My Little Pony die Mähne zu Zöpfchen flechten lassen, als dieses Schiff noch einmal zu betreten.
»Du brauchst nicht auf mich zu warten«, sagte ich zu ihm. Aber, Boss …
»Glaub mir«, sagte ich.
»Wir kommen schon allein da raus.«
Blackjack faltete seine Flügel zusammen und ließ sich wie ein schwarzer Komet auf das Schiff hinabfallen. Der Wind pfiff in meinen Ohren. Ich sah Monster, die über die oberen Decks patrouillierten – Dracaenae, Schlangenfrauen, Höllenhunde, Riesen und diese menschenähnlichen Seehundsdämonen, die Telchinen genannt werden –, aber wir jagten so schnell vorüber, dass niemand Alarm schlug. Wir schossen auf das Heck des Schiffs zu, Blackjack breitete seine Flügel aus und setzte dann geschmeidig auf dem untersten Deck auf. Ich stieg von seinem Rücken und mir war jetzt schon schlecht.
Viel Glück, Boss, sagte Blackjack. Lass dich von denen ja nicht zu Pferdewurst machen. Mit diesen Worten flog mein alter Freund in die Nacht davon. Ich zog meinen Füllfederhalter aus der Tasche und drehte die Kappe herunter, und Springflut öffnete sich zu seiner vollen Größe – neunzig Zentimeter tödliche himmlische Bronze glühten in der Abenddämmerung.
Beckendorf zog ein Stück Papier aus der Tasche. Ich hielt es für eine Landkarte oder so, aber dann ging mir auf, dass es ein Foto war. Er starrte es im trüben Licht an – das lächelnde Gesicht von Silena Beauregard, Tochter der Aphrodite. Sie waren seit dem vergangenen Sommer zusammen, nachdem wir anderen jahrelang gesagt hatten: »Hört mal, ihr mögt euch doch offenbar!« Trotz der vielen gefährlichen Einsätze war Beckendorf in diesem Sommer glücklicher gewesen, als ich es je erlebt hatte.
»Wir schaffen es zurück ins Camp«, versprach ich. Für einen Moment sah ich Sorge in seinen Augen. Dann setzte er sein altes zuversichtliches Lächeln auf. »Davon kannst du ausgehen«, sagte er. »Komm, jetzt sprengen wir Kronos wieder in eine Million Fetzen.«